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Publicly Available Published by De Gruyter June 29, 2022

„Wandel durch Handel funktioniert durchaus“

Ein Gespräch über die Wirksamkeit und sinnvolle Ausgestaltung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die ökonomischen Aussichten Österreichs und die Zukunft der Globalisierung

  • Gabriel Felbermayr EMAIL logo

PWP: Herr Professor Felbermayr, am 24. Februar hat Russland die Ukraine überfallen. Der Westen hat daraufhin recht rasch und ungewohnt geeint wirtschaftliche Sanktionen verhängt und diese im Laufe der Zeit verschärft. Was ist Ihre Einschätzung jetzt, Ende Mai – wirken diese Sanktionen?

Felbermayr: Wenn Sanktionen verhängt werden, ist das schon der Beleg eines Scheiterns. Sanktionen sollen ja im Vorfeld wirken. Schon die Sanktionsdrohung soll ein unerwünschtes Verhalten unterbinden. Wenn man also Sanktionen verhängt, dann heißt das, dass man mit dem eigentlichen Mittel, der Drohung, sein Ziel nicht erreicht hat – zum Beispiel weil man nicht glaubwürdig gedroht hat, weil man die Maßnahmen nicht richtig kalibriert hat, oder weil man schlecht kommuniziert hat. Da sind viele Fehler passiert. Wenn es also zu Sanktionen kommt, dann liegt das daran, dass man sich verkalkuliert hat oder es falsch angegangen ist.

PWP: Aber das heißt doch nicht, dass sie gar nichts bringen?

Felbermayr: Aus spieltheoretischer Sicht heißt das, dass überhaupt nicht zu erwarten ist, dass Sanktionen schnell – oder überhaupt – wirken und eine Verhaltensänderung nach sich ziehen. Wenn Wladimir Putin rational vorausgesehen hätte, dass Russland sanktioniert würde, und wenn die Sanktionen hinreichend schmerzhaft gewesen wären, dann hätte er den Krieg gar nicht erst begonnen. Hat er aber. Wenn Putin aber rational vorausgesehen hat, dass die Sanktionen, die kommen, schwach sind, dann lässt er seine Truppen in die Ukraine einmarschieren und ist durch die schwachen Sanktionen auch nicht mehr davon abzubringen. Genau so ist es ja gekommen. Eine Wirkung können Sanktionen später nur haben, indem sie die Glaubwürdigkeit der Drohung gegenüber anderen potenziellen Angreifern verstärkt, wenn sie für den Aggressor überraschend kommen oder wenn sich in dessen Kalkül andere Dinge wesentlich verschoben haben.

PWP: Das ist ja genau das Szenario, in dem wir uns jetzt befinden. Der Zug für das Ex-ante-Abschreckungsgleichgewicht, das Sie beschrieben haben, ist in der Tat abgefahren. Inzwischen geht es darum, Russland an einer Ausweitung seiner Aggression zu hindern und Putin die notwendigen Mittel zu entziehen. Vor diesem Hintergrund nochmals die Frage: Wirken die Sanktionen?

Felbermayr: Auch das kann streng genommen nicht klappen. Dazu sind Wirtschaftssanktionen nicht in der Lage. Sie können ein Fehlverhalten nicht beenden, dazu sind sie nicht gemacht. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Wenn ich sehe, wie ein Aggressor einer Frau die Handtasche wegnimmt, dann muss ich physisch eingreifen. Ich muss ihn stoppen und notfalls niederringen. Wenn ich jetzt Putin bloß mit weiteren Wirtschaftssanktionen drohe, dann ist das so, als ob ich dem Dieb aus der Ferne zurufe, dass man ihm die Hälfte der gestohlenen Handtasche eines Tages wieder abnehmen werde. Wirtschaftssanktionen können das Kosten-Nutzen-Kalkül des Aggressors verändern, sie können aber die Aggression selber nicht direkt stoppen.

PWP: Das Beispiel hinkt etwas, oder? Es geht im Fall Russlands nicht um ein einmaliges Fehlverhalten, sondern um ein fortgesetztes. Der Krieg wurde angezettelt, und nun wird er jeden Tag weitergeführt. Wenn schon, dann muss es sich in Ihrem Beispiel um einen geschäftsmäßigen Dieb handeln, der täglich Handtaschen stiehlt. Und da muss es das Ziel sein, ihn von einer Wiederholung abzubringen.

Felbermayr: Ja klar, Sie wollen Putin erst einmal seine Waffen wegnehmen, und das können Sie mit Sanktionen eben nicht. Dafür müssen Sie physisch vor Ort sein. Man kann nur hoffen, dass infolge von Wirtschaftssanktionen in der russischen Rüstungsindustrie die Produktionskosten in die Höhe gehen und dass der Ersatz der Ausrüstung dann nicht mehr klappt. Wir können also das Kosten-Nutzen-Kalkül in die Zukunft hinein verändern. Aber auch das kann nur dann funktionieren, wenn wir die vorab angedrohten Sanktionen überraschend verschärfen. Sonst ändert sich nichts, sondern der Kreml sähe nur sein bestehendes Kalkül bestätigt. Wenn es aber gelingt, sein Kosten-Nutzen-Kalkül zu verändern, dann kann das in der Tat eine Auswirkung auf die Beantwortung der Frage haben, ob Russland den Krieg weiterführt oder ob man sich zurückzieht oder wenigstens zu Kompromissen bereit zeigt. Aber da sind wir in der mittleren bis langen Frist. Kurzfristig bringen Sanktionen nichts. Auch wenn immer vom „Krieg mit anderen Mitteln“ die Rede ist – Sanktionen sind keine perfekten Substitute für ein militärisches Eingreifen. Und militärisch eingreifen will der Westen ja nicht. Will man die Ukraine schützen, geht daher kein Weg an Waffenlieferungen vorbei.

PWP: Mit dem Überraschungsmoment, von dem Sie sprechen, tun wir uns in demokratischen Gesellschaften allerdings schwer. Die Diskussion über die Sanktionen, auf die sich die westlichen Regierungen verständigen, wird sehr öffentlich geführt – was aus Legitimitätsgründen auch notwendig ist. Aber so weiß der Kreml immer schon, worauf er sich einstellen muss.

Felbermayr: Genau. Aber ich muss sagen, im aktuellen Kontext ist es uns gar nicht so schlecht gelungen. Ich bin im konkreten Fall sehr für Wirtschaftssanktionen und auch dafür, sie schneller überraschend zu verschärfen, als es mancher Politiker gegenwärtig offenbar für machbar hält. Und ich glaube schon, dass ein Überraschungsmoment in unserer Antwort auf die russische Aggression vorhanden und spürbar ist. Aber wissen kann man das nicht; schließlich kennt niemand Putins Kalkül wirklich.

PWP: Womit haben wir Putin denn nach Ihrer Einschätzung womöglich überrascht?

Felbermayr: Erstens damit, dass wir ein Tabu gebrochen haben, nämlich dadurch, dass wir letztlich einen großen Teil der russischen Reserven kalt enteignet haben. Das ist sehr teuer, auch für uns, weil dadurch Dollar und Euro als Reservewährungen stark in Frage gestellt werden. Welcher Autokrat der Welt wird noch Dollar und Euros sammeln? Das ist ein großes Thema und keine Petitesse. Hier geht es um Seigniorage-Gewinne, die mehrere Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen können, und das über Jahrzehnte. Dass wir diese Maßnahme ergriffen haben, dürfte für Russland schon eine Überraschung gewesen sein. Und die andere Überraschung war sicher, dass der Westen sehr einig ist, trotz vier Jahren unter dem amerikanischen Präsident Donald Trump, trotz Brexit und jahrelanger Euroschuldenkrise in Europa. Wir sind vielleicht nicht so einig, wie wir uns das wünschen, aber doch mehr, als man es im Kreml gedacht hat. Diese Überraschungselemente in unserer Sanktionspolitik können das Kosten-Nutzen-Kalkül Russlands möglicherweise schon verändern. Das hoffe ich jedenfalls.

PWP: Das setzt voraus, dass ökonomische Konsequenzen die Entscheidungen im Kreml tatsächlich spürbar beeinflussen können. Auch wenn man davon ausgeht, dass Putin und seine Entourage rational handeln, steht aber immer noch zu befürchten, dass andere Dimensionen in ihrem Kalkül eine größere Rolle spielen als rein ökonomische Kosten. Was, wenn das imperialistische Ziel so wichtig ist, dass man auch eine erhebliche Verarmung der eigenen Bevölkerung in Kauf nimmt?

Felbermayr: Man darf nicht vergessen, dass Russland mit der Ukraine schon seit 2014 im Krieg ist, seit der Annexion der Krim. Seit vielen Jahren gibt es in Russland eine heftige Kriegspropaganda, die sich eingeschliffen hat, und eine freie Presse existiert dort schon lange nicht mehr. Nur so konnte man überhaupt das Narrativ aufbauen, dass es angeblich um das eigene Überleben gehe, dass der Westen Russland bedrohe, einenge und kleinhalten wolle. Man kann das in Putins Rede vom 9. Mai auf dem Roten Platz nachlesen. Trotzdem glaube ich, dass man im Kreml auch ökonomische Konsequenzen ernst nimmt. In der Zielfunktion der politischen Elite Russlands kommt schon auch das Einkommen der Bevölkerung vor, und zwar gerade in relativer Hinsicht, verbunden also mit einer Vorstellung von einer anzustrebenden internationalen Verteilung.

PWP: In Russland lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Jahr 2020 bei umgerechnet gut 10.000 Dollar, in Deutschland bei 45.700 und in den Vereinigten Staaten bei mehr als 63.000[1]. Dieser deutliche Vorsprung des Westens bedeutet nach Ihrer Lesart also eine imperialistische Kränkung?

Felbermayr: Wahrscheinlich schon, weil das machtpolitisch einfach ein wichtiger Faktor ist. Für einen liberalen Ökonomen ist der Ländervergleich eigentlich irrelevant. Solche Fragen der internationalen Verteilung sollten nicht in eine politische Zielfunktion eingehen. Stattdessen muss es einfach darum gehen, das Pro-Kopf-Einkommen der eigenen Bevölkerung zu verbessern. Aber spätestens bei Donald Trump haben wir gesehen, was es im Ausland bewirkt, wenn ein Politiker verschärft auf den relativen Status seines Landes gegenüber anderen schaut. Es ist völlig klar: Damit das internationale Handelssystem funktioniert, müssen alle etwas davon haben. Es gibt insofern, im Jargon gesprochen, eine „Participation constraint“. Aber wenn es beispielsweise so gewesen wäre, dass die Vereinigten Staaten von TTIP – dem gescheiterten transatlantischen Freihandelsabkommen – stärker profitiert hätten als wir hier in Europa, hätte ich damit null Problem gehabt.

PWP: Sie nicht, aber andere schon.

Felbermayr: So ist es. Diese Haltung ist schon im Westen nicht die Regel. Auch da schaut die Politik sehr wohl hin, welches Land von der gemeinsamen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mehr profitiert oder umgekehrt von einer Entflechtung, einem „Decoupling“, den höheren Schaden hat. Es geht also nicht nur um absolute, sondern auch um relative Handelsgewinne. Wie stark das Relative und das Absolute nun in Russland gewichtet ist, wissen wir nicht. Aber dass das Absolute eine Rolle spielt und durchaus nicht vollständig vom Relativen überdeckt wird, glaube ich einfach deshalb, weil Putin schon seit vielen Jahren die Inflation als größte ökonomische Gefahr in Russland bezeichnet. Die Inflation ist ja deswegen eine Gefahr, weil durch sie die Kaufkraft erodiert, weil sie den kleinen Mann besonders hart trifft und das soziale Gleichgewicht stört, weil sie Planung schwierig macht und die Entscheidungen zu sparen und zu investieren verzerrt.

PWP: Sie macht uns im Moment ja auch zu schaffen, mit einer Inflationsrate im Euro-Raum von 7,5 Prozent im April[2]. In Russland reden wir allerdings nach Angaben der Zentralbank von 17,8 Prozent im April[3], und die Gouverneurin Nabiullina erwartet 18–23 Prozent für das Gesamtjahr 2022[4].

Felbermayr: Dass Putin einst ausgerechnet Elwira Sachipsadowna Nabiullina, eine Freigeistin, zur Gouverneurin der russischen Zentralbank bestellt hat, kam zur Überraschung vieler Beobachter. Schon das zeigt mir aber, dass die Lebensverhältnisse der russischen Bevölkerung für Putin durchaus Gewicht haben. Null ist dieses Gewicht jedenfalls nicht. Aber wie groß es genau ist, insbesondere nach acht Jahren massiver kriegsvorbereitender und kriegsbegleitender Propaganda, ist schwer zu sagen.

PWP: Welche Maßnahmen treffen Russland denn besonders hart? Ist es der Ausschluss etlicher russischer Finanzinstitute vom Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift, vor dem un

ter anderem der deutsche Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) einst in drastischen Worten gewarnt hatte[5]?

Felbermayr: Nein. Nach meiner Einschätzung sind es die Finanzmarktsanktionen in ihrer indirekten Wirkung auf den Güterhandel. Russland konnte infolge dieser Maßnahmen sein Erdöl schon vor Einführung expliziter Erdölsanktionen durch die wichtigsten Abnehmerländer nur mit einem deutlichen Abschlag von etwa einem Drittel verkaufen, bekommt also immerhin 30 bis 35 Dollar pro Barrel weniger. Da merkt man schon, dass mit den Sanktionen durchaus ökonomische Schmerzen ausgelöst werden. Allerdings ist der Ölpreis an den Märkten gestiegen, sodass der Export von Erdöl den Russen auch bei einem Preisabschlag von einem Drittel immer noch hohe Deviseneinnahmen einbringt. Was ebenfalls sicher gut funktioniert, aber etwas Zeit braucht, sind die Technologie-Exportrestriktionen des Westens. Allerdings sind diese Sperren nicht vollständig. Zum Beispiel produziert Airbus Flugzeuge in China und China hat keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Wir reden uns ein, dass unsere Sanktionen die russische Luftfahrt lahmlegen könnten, was für dieses Riesenland in der Tat ein echtes Thema wäre. Aber wir haben nicht im Griff, dass aus vielen anderen Ländern, die ebenfalls Airbus-Flugzeuge besitzen, Ersatzteile nach Russland gelangen. Insgesamt betrachtet, glaube ich, handelt es sich immer noch um ein relativ mildes Sanktionsregime.

PWP: Zu Ihrer Bemerkung passen die Diskussionen darüber, wieviel es den Russen ausmachen muss, dass sie den Zugriff auf einen Großteil der Devisenreserven der Zentralbank verloren haben und dass ein Rohstoffembargo die Devisenzuflüsse weiter drosselt. Zum Beispiel hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) Ende März die Kritik zurückgewiesen, Deutschland finanziere mit den Energieimporten aus Russland den Ukraine-Krieg mit. Russland könne wegen der Sanktionen mit den Devisen ohnehin wenig anfangen, sagte er[6]. Ist etwas dran an der Überlegung, dass Russland seine Kriegsmaschinerie im Inland herstellt und mit unbegrenzt nachdruckbaren Rubeln bezahlt?

Felbermayr: Um ehrlich zu sein, fand ich diese Diskussionen unterirdisch. Natürlich schadet es Putins Machtapparat, wenn ihm weniger Ressourcen zufließen. Dass man das anders sehen kann, macht mich perplex. Selbst wenn Soldaten und Rüstungsindustrie in der Landeswährung bezahlt werden, was ja der Fall ist, stellt sich die Frage, wie werthaltig dieser Rubel ist. Jeder Devisenzufluss macht den Rubel härter; alle ausbleibenden Devisen machen ihn schwächer – und gerade, wenn man sich bewusst macht, dass ein wichtiger Bestandteil der Putin’schen Wirtschaftspolitik immer die Inflationsbekämpfung gewesen ist, dann ist auch klar, dass eine starke Abwertung für Russland ein Riesenthema wäre.

PWP: Der Rubel hat sich aber als erstaunlich robust erwiesen; sein Kurs zum Dollar und zum Euro ist nach drastischem Einbruch schnell wieder auf das Niveau vor den Sanktionen zurückgekehrt und darüber hinausgeschossen.

Felbermayr: Ja, das macht die Zentralbank in Moskau sehr geschickt. Man muss sich dabei allerdings klar machen, dass der Markt für den freien Handel von Rubel enorm geschrumpft ist und dass die russische Währung heute massiv manipuliert ist – manipuliert eben durch die Deviseneinnahmen der Exporteure, die damit Rubel kaufen müssen. Das hält die Inflation niedriger, als sie sonst wäre. Das macht den Rubel als Zahlungsmittel nicht nur intern, sondern auch gegenüber Drittstaaten, zum Beispiel im globalen Süden, zu einem immerhin brauchbaren Vehikel. Das ist nur möglich, weil weiterhin Euros und Dollars zufließen. Das erhöht die Potenz der russischen Volkswirtschaft und ermöglicht damit auch die Finanzierung und Fortführung des Krieges.

PWP: Was müsste man tun, um das zu unterbinden?

Felbermayr: Wenn wir das stoppen wollen, dann müssen wir auf den Import von Rohstoffen aus Russland verzichten, also auf Erdöl und Erdgas, und wir müssten mit Sekundärsanktionen versuchen, Geschäfte mit Drittländern möglichst klein zu halten. Ein solches Paket wäre aber auch für uns sehr kostspielig. Das macht die Umsetzung so schwierig. Wir sehen ja bei der mühseligen Einführung eines teilweisen Erdölembargos die große Heterogenität innerhalb Europas – die einen können sofort aussteigen, für die anderen ist es wesentlich schwieriger.

PWP: Zum Beispiel für Deutschland, unter anderem mit seinen beiden ostdeutschen Raffinerien, Schwedt und Leuna, die ausschließlich am russischen Öl hängen.

Felbermayr: Bisher können diese Raffinerien nicht ausreichend anderweitig versorgt werden; die Vorbereitungen dazu laufen aber. Und beim Gas ist das Problem noch um eine Größenordnung gravierender. Aber wenn man der russischen Volkswirtschaft wirklich weh tun will, dann muss man da aussteigen. Nur sind wir dazu noch nicht wirklich in der Lage.

PWP: Ist ein klassisches Embargo denn der Weisheit letzter Schluss? Wenn die Verknappung den Preis hochtreibt, wäre doch zu befürchten, dass Russland mit einem Embargo im Saldo gar nicht geschadet würde. So hat sich Anfang Mai auch der deutsche Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) geäußert[7]. Was halten Sie von dem Vorschlag, stattdessen einen Strafzoll auf die Einfuhr von russischem Öl zu erheben[8]? Die Erträge könnte man entweder zur Kompensation stark betroffener Länder, Industrien und Haushalte nutzen oder sie später für den Wiederaufbau der Ukraine nutzen. Kann es gelingen, den Zoll akkurat so zu setzen, dass die Rechnung aufgeht?

Felbermayr: Mir hilft immer das Nachdenken in Extremen. So gilt es sich klar zu machen, dass ein sehr hoher, prohibitiver Einfuhrzoll genauso wirkt wie ein Embargo. Der Zoll erlaubt mir aber, auf dem Weg zur Lieferung von Null einen Pfad zu beschreiten, auf dem ich flexibler bin. Gewiss muss man die Hoffnung fahren lassen, einen Optimalzoll akkurat berechnen zu können. Das geht nicht. Aber in einer Übergangsphase wird er weder bei Null liegen noch bei 1.000 Prozent. Das heißt, man macht wahrscheinlich einen viel größeren Fehler, wenn man gleich mit einem prohibitiv hohen Zoll beziehungsweise einem Embargo anfängt. Politisch wäre ein Zoll einfacher, weil man dazu keine Einstimmigkeit in der EU braucht. Und man hätte den Vorteil, zu einem veränderten relativen Preis in einer Übergangsphase noch teilweise Erdölströme aus Russland zulassen zu können.

PWP: Warum sollte sich Russland darauf einlassen?

Felbermayr: Man kann den Abtransport von Erdöl von manchen Quellen nicht abrupt stoppen; es läuft sonst über und die Bohrlöcher gehen kaputt. Man kann nicht einfach so entscheiden, mit dem Betrieb aufzuhören und das Öl im Boden zu lassen. Die Angebotselastizität ist deshalb vermutlich sehr klein. Das heißt, Russland wird vernünftigerweise auch zu mittelhohen Zöllen weiter Erdöl in den Westen exportieren, wenn auch sicher in reduzierter Menge, sodass aber insbesondere den Bulgaren, den Slowaken und den Ungarn geholfen wäre – jenen Ländern, die derzeit am stärksten abhängig sind, abhängiger noch als Deutschland. Das ginge sogar zu wettbewerbsfähigen Bedingungen, denn Russland müsste den Großteil des Zolls selbst tragen und könnte die Last auch im Zuge einer Neuverhandlung der Preise, die nach Ablaufen der bestehenden Verträge stattfinden könnte, nicht überwälzen. Denn die für Russland wenig attraktive Alternative wäre ja, das Öl in Sibirien versickern zu lassen. Das wäre nicht nur ökologisch eine Katastrophe, es wäre auch schlicht eine große Verschwendung. Beim Gas gelten ähnliche Argumente.

PWP: Aber nochmal – der Zoll muss schon so berechnet sein, dass es für Russland nicht etwa attraktiver wäre, das Öl nach China zu verfrachten. Damit wäre uns auch nicht gedient.

Felbermayr: Aber genau das passiert im Fall eines Embargos. Da wird Russland alles versuchen, um alternative Absatzmärkte aufzutun. Und dann stellt sich für uns die Frage, was wir in Europa tun können, um das zu unterbinden. Zum Beispiel sind griechische Reedereien sehr wichtig auf dem internationalen Tankermarkt – da ließe sich mit Sekundärsanktionen sicher das eine oder andere machen. Auch sind viele der Versicherungen, bei denen große Frachter versichert sind, unter europäischer Kontrolle. Das ist alles mühsam; es kommt aber in beiden Fällen auf uns zu, beim Embargo wie beim Einfuhrzoll. Gegenüber dem Embargo hat ein Einfuhrzoll aber einerseits den Vorteil, dass man wenigstens einen Teil der Knappheitsrenten abschöpfen kann, und andererseits, dass man flexibel ist und ihn aus dem Stand umsetzen kann – und nicht etwa erst zu Weihnachten, wenn wir den Plan bis dahin überhaupt durchgehalten haben. Jetzt haben wir nach langen Verhandlungen in der EU immerhin ein teilweises Erdölembargo. Das schließt übrigens einen zusätzlichen Zoll mitnichten aus. Damit könnten wir sofort anfangen und ihn dann peu à peu steigen lassen. Jedenfalls sollten wir uns den Importzoll ganz genau ansehen für den Fall, dass wir auch beim Erdgas Sanktionen brauchen, etwa als Antwort auf breitflächige Kriegsverbrechen Russlands in der Ukraine.

PWP: Können wir darauf hoffen, dass die Organisation Erdöl exportierender Staaten (OPEC) hilft, der Verknappung gegenzusteuern?

Felbermayr: Das Problem ist, dass der Ukraine-Krieg, der kurzfristige Entscheidungen erfordert, von einem langfristigen Trend zur Dekarbonisierung überlagert wird, der die Strategie der OPEC sicherlich bereits verändert hat. Wenn Europa, auch die Vereinigten Staaten unter Präsident Joe Biden, und immer mehr auch China den Kurs fahren, sich von fossilen Brennstoffen zu lösen, worin besteht dann die optimale Strategie für die OPEC? Die einen würden sagen, dann heißt es auf Teufel komm raus zu fördern und zu welchem Preis auch immer zu verkaufen, weil sie wissen, dass es morgen keinen Markt mehr gibt. Die anderen würden sagen, wenn es morgen keinen Markt mehr gibt, dann investieren sie heute nichts mehr in ihre Förderkapazitäten und in die notwendige Infrastruktur, denn das zahlt sich nicht länger aus. Dann aber ist die Verknappung des Angebots und das Erzielen von möglichst hohen Preisen heute möglicherweise rational. Ohne den ja durchaus glaubwürdig angekündigten Ausstieg des Westens und zunehmend auch Chinas aus den Fossilen würde die OPEC sicher ganz anders operieren; sie würde noch einmal heftig investieren und mit einer aggressiven Preispolitik Marktanteile von Russland zurückerobern. Aber so wäre das nicht rational.

PWP: Also sollten wir darauf nicht warten.

Felbermayr: Man muss auch sehen, dass der Ukraine-Krieg und die Dekarbonisierung ihrerseits noch einmal überlagert werden von der uns bevorstehenden gesamtwirtschaftlichen Verlangsamung. Wenn die Notenbanken die Zinsen schneller anpassen müssen, als man bisher gedacht hat, und wenn sich daraufhin die Weltkonjunktur abschwächt, dann schrumpft auch der Bedarf an Erdöl – und dann gehen dessen Preise zurück. Auch das verändert sofort die Einkommenspositionen in den erdölfördernden Ländern. Einige von ihnen brauchen relativ hohe Absatzpreise, um ihre Budgets auszugleichen. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder gesehen, dass gerade dann, wenn die Nachfrage zurückgeht, das Angebot steigt, einfach weil man mehr fördern muss, und dann aber zu geringeren Preisen, um in einer rezessiven Situation den Staatshaushalt zu finanzieren.

PWP: Eine klassische anomale Reaktion des Angebots, denn normalerweise würde das Angebot gedrosselt, wenn die Preise sinken.

Felbermayr: So anomal gar nicht, weil der negative Einkommenseffekt eine Förderausweitung notwendig machen kann. Auf jeden Fall passiert momentan viel, was nicht ursächlich mit dem Ukraine-Krieg zu tun hat, zum Beispiel die Anpassung der Zinsen und die Abkühlung der Weltkonjunktur. Und auch das ist eben für die OPEC relevant und wirkt auf ihre Entscheidung ein.

PWP: Schauen wir rasch noch aufs Erdgas, von dem wir gerade in Deutschland und auch in Österreich so abhängig sind. Politik und Öffentlichkeit diskutieren seit Monaten darüber, wer wem den Hahn zudreht. Wir haben schon im Zusammenhang mit dem Erdöl davon gesprochen, dass es technisch gar nicht in allen Fällen für Russland leicht ist, die Förderung herunterzufahren und den Abtransport zu stoppen. Dasselbe gilt wohl auch für Erdgas. Was folgt daraus?

Felbermayr: Es gibt Lagerstätten, aus denen man durch Fracking das Gas erst herauspressen muss. Wenn man es unterlässt, künstlich Druck auf die Gesteinsformationen auszuüben, dann kommt da nichts mehr. Aber in Russland hat man den Vorzug günstiger Lagerstätten, wo es kein teures Fracking braucht. Und die stehen unter Druck. Wenn das Gas nicht abtransportiert wird, gibt es einen großen Knall. Man müsste es schon strömen lassen und abfackeln. Das wäre reine Verschwendung – also muss Russland ein Interesse daran haben, lieber günstig zu verkaufen, als gar nicht. Und das heißt nichts anderes, als dass die Angebotselastizität sehr gering ist. Man müsste auch bei sehr geringen Preisen bereit sein, Gas zu verkaufen. Das würde auch hier wiederum für die Zoll-Lösung sprechen. Ich habe auf einer Panel-Diskussion einmal zum Entsetzen von Nicht-Ökonomen gesagt, dass ich weder etwas gegen russisches Gas noch gegen russisches Erdöl habe. Ich habe nur etwas dagegen, dass der Kreml mit diesen Lieferungen einen Haufen Geld verdient. Wenn die uns ihr Gas und ihr Öl zu Grenzkosten zur Verfügung stellen müssen, dann nehmen wir es doch gerne – wo ist das Problem? Mit den noch verbleibenden Erlösen kann Putin seinen Krieg nicht mehr finanzieren, die werden für die Extraktion verbraucht.

PWP: Wenn er denn nicht doch lieber sein Gas abfackelt, als das Spiel des Westens zu spielen.

Felbermayr: Das ist leider auch denkbar.

PWP: Im Mai hat nicht Russland, sondern die Ukraine die sogenannte Sojus-Pipeline blockiert, weil man die Kontrolle darüber im russisch besetzten Gebiet verloren habe. Könnte das ein Signal, ein Druckmittel gegenüber dem Westen sein, nun endlich mit den Rohstoffembargo voranzukommen?

Felbermayr: Ich glaube, das ist es. Ich habe mich eigentlich immer gewundert, warum die Ukraine nicht schon längst so etwas gemacht hat. Sie hätte auch längst schon den schwarzen Peter an den Aggressor reichen und etwas von einer russischen Rakete erzählen können. Bisher hat man sich das wohl nicht getraut, weil es zu durchschaubar ist. Und die Unterstützung, auch aus Deutschland, ist für die Ukraine sehr wichtig. Aber es ist klar, dass nicht nur Russland die strategische Unsicherheit über den Gasfluss nach Westen gern sieht und instrumentalisiert, nicht zuletzt weil sie den Gaspreis an den Spotmärkten erhöht – sondern eben auch die Ukraine. Denn je größer die Unsicherheit ist, desto mehr müssen sich die Europäer anstrengen, schnell aus dem russischen Gas auszusteigen. Erstaunlich ist nur, dass das nicht schon früher und vehementer gespielt wurde. Das wird uns begleiten.

PWP: Wie stark belastet die ganze Situation Ihr Land, Österreich? In den jüngsten Zahlen, die das WIFO veröffentlicht hat, sah es ja nach einer ausgesprochen guten Erholung von Corona aus, verbunden allerdings mit der Befürchtung, dass der Schwung bald wieder weg ist.

Felbermayr: Ja, so ist es. Im Update unserer Mittelfristprognose[9] sehen wir, dass die mittelfristige Dynamik, wenn wir als wahrscheinlichstes Medianszenario keinen Gaslieferstopp unterstellen, einen Rückgang des Wachstums in den nächsten fünf Jahren auf 1,4 Prozent erwarten lässt. Das ist nicht gut. Es ist das Potenzialwachstum, das deutlich zurückgeht – einerseits wegen der Demographie, aber auch aufgrund langfristig höherer Energiepreise und gestiegener Inflationsraten, und natürlich aufgrund des sich daraus ergebenden Verlusts an Wettbewerbsfähigkeit nach außen, denn in anderen Regionen sind die Energiepreise nicht so stark gestiegen, zum Beispiel in Amerika. Das belastet schon. Gleichzeitig gibt es aber auch ein paar strukturelle Elemente, die uns helfen.

PWP: Welche?

Felbermayr: Es ist allen voran die Tatsache, dass wir auf den Arbeitsmärkten ganz andere Knappheitsverhältnisse sehen als noch vor einiger Zeit. Es sind nicht mehr die Jobs, die knapp sind, sondern die Arbeitskräfte. Das hat sich allerdings noch gar nicht so richtig im Denken vieler Gewerkschaftsfunktionäre, Wirtschaftspolitiker und Journalisten eingeprägt. Die Lage auf den Arbeitsmärkten ist kritisch für die politische Stabilität; hohe Arbeitslosigkeit ist immer ein sozialer Sprengstoff. Das ist weg. Und das hilft viel! Obwohl das Wirtschaftswachstum schrumpft, gehen wir davon aus, dass die Arbeitslosenquote in Österreich in den kommenden fünf Jahren jedes Jahr weiter sinkt. Denn das Wachstum des Arbeitskräftepotenzials wird zum Ende kommen und schließlich negativ werden. Gleichzeitig besteht in vielen Branchen trotz der laufenden Automatisierung ein hoher Bedarf an Arbeitskräften – zum Beispiel im großen Dienstleistungssektor, den wir in Österreich haben. Das gilt insbesondere für die Pflege, denn die Alterung steigert den Bedarf an Arbeitskräften. Das heißt, die Befürchtung, die uns seit den siebziger Jahren regelmäßig umtrieb, dass bei einem Rückgang des Wirtschaftswachstums die Arbeitslosigkeit stark ansteigt, dass dann soziale Unruhe entsteht und Wahlen verloren gehen – das ist nicht mehr das primäre Thema. Was uns aber heute neu und nachhaltig Sorgen macht, ist die Inflation. Auch sie ist sozial gefährlich.

PWP: Im Euro-Raum lag die Inflationsrate im April wie gesagt bei 7,5 Prozent; in Österreich wurden 7,2 Prozent gemessen[10]. In Anbetracht der Lage wird die Preissteigerung nicht so schnell wieder zurückgehen.

Felbermayr: Naja, wir erwarten, dass die Inflationsrate nicht auf dem hohen Niveau von mehr als 7 Prozent bleibt, sondern dass sie sich noch dieses Jahr zurückentwickelt, sofern es nicht zu einem Gasembargo kommt. Aber sie wird trotzdem mittelfristig deutlich höher sein als die angestrebten 2 Prozent. Auch wenn bei der EZB jetzt allmählich etwas passiert, werden die Realzinsen noch über viele Jahre negativ bleiben. Insgesamt ist das Bild, das wir zeichnen, freilich ein nicht ganz so düsteres. Ja, wir haben hohe Inflation, aber auf den Arbeitsmärkten herrschen nachhaltig stabile Verhältnisse. Das macht die gegenwärtige Lage auch so anders als die Situation der Stagflation der siebziger Jahre.

PWP: Die Stagflation, eine Kombination wirtschaftlicher Stagnation mit dauerhafter Inflation, wie wir sie in den Siebzigern nach den Ölpreisschocks erlebt haben, ist ja eigentlich ein Schreckgespenst. Aber Sie sind da jetzt offenbar ganz entspannt.

Felbermayr: Ganz entspannt nicht. Aber bei geringer Arbeitslosigkeit tut Stagflation einfach weniger weh. In den siebziger Jahren hat sie viel politischen Druck erzeugt. Aber damals war sie mit Massenarbeitslosigkeit verbunden. Und Arbeitslosigkeit ist heute eben in der Breite nicht mehr die Gefahr; außer in einzelnen Branchen, vor allem in jenen, die der Umbau der Energiesysteme stark belasten wird. Ich will nicht sagen, dass die Arbeitslosigkeit aus den Schlagzeilen verschwinden wird – das wird sie nicht. Aber die Sorge vor Massenarbeitslosigkeit ist heute wesentlich geringer. Daher: Die Stagnation muss uns heute weniger ängstigen.

PWP: Was bedeutet die aktuelle Kombination von Krieg, Sanktionen und Stagflation denn für die Globalisierung? Die Hoffnung war ja mal, dass die wirtschaftliche Verflechtung der Welt auch zu friedlichen Beziehungen führt, aber jetzt streben alle nach mehr Eigenständigkeit. „Wandel durch Handel“: Davon können wir uns verabschieden, oder?

Felbermayr: Ja, und das ist für mich persönlich und wohl für viele Menschen eine Riesenenttäuschung. Dabei ist es ja nicht so, dass wir uns empirisch geirrt hätten: Wandel durch Handel funktioniert durchaus. Bei jeder EU-Erweiterung konnten wir das feststellen. Es gilt wahrscheinlich auch für China. Das Counterfactual kennt niemand, aber man stelle sich vor, wir hätten keinen Handel mit China betrieben und China hätte sich nicht entwickelt. Vielleicht wäre dieses Riesenreich dann heute vielleicht ein Elendsloch, das mit Atomwaffen die Welt terrorisiert: ein Nordkorea in groß. So zu tun, als wäre das Konzept „Wandel durch Handel“ gescheitert, halte ich für vollkommen überzogen. Wer weiß schon, was ohne die wirtschaftliche Globalisierung mit der Sicherheit in der Welt passiert wäre, mit der Häufigkeit und Intensität kriegerischer Ereignisse.

PWP: Ja, was?

Felbermayr: Wir hätten auf jeden Fall sehr viel mehr Armut, und Armut stabilisiert die Verhältnisse nun wirklich nicht. Doch es gibt neben dem wirtschaftlichen Wohlergehen der Bevölkerung, das ein modelltheoretischer „Benevolent dictator“ in seiner Zielfunktion stehen hat, in der Realität eben auch noch anderes. Damit meine ich nicht nur das, was wir in der neuen politischen Ökonomie längst gut abbilden können, vom Streben der Politiker nach einer Maximierung der Wiederwahlchancen bis hin zur Bereicherung – das sind alles Interessen, die durchaus der Globalisierung wohlgesinnt sein sollten. Es geht in der Realität wie gesagt immer auch um relative Handelsgewinne.

PWP: Also darum, wer ökonomisch die Nase vorn hat. Und es geht um nationales Vormachtstreben.

Felbermayr: Klar. In den Vereinigten Staaten gibt es viele Leute, die sagen, der Handel mit China hat uns billige Produkte gebracht, aber wir haben eine Natter an unserer Brust genährt, und wir können nicht darauf vertrauen, dass diese Natter uns nicht einmal beißt. Ja, wir haben wirtschaftlich profitiert, sagen die Amerikaner, aber die Chinesen viel, viel mehr. Wir haben vielleicht über zwanzig Jahre jährlich ein Viertel Prozentpunkt mehr Wachstum gehabt, ok, aber in China waren es vier Prozentpunkte. Das hat China zur zweitgrößten Volkswirtschaft gemacht, die uns aber nicht wohlgesinnt ist. So denken jetzt viele, und das ist das Neue. Uns ist mittlerweile bewusst, dass wir scharf darauf achten müssen, dass Gewinne aus dem Außenhandel, die anderswo anfallen, nicht dazu verwendet werden dürfen, um uns zu unterdrücken, um unsere Freiheit und unsere Souveränität einzuschränken. Der Ukraine-Krieg hat das Vertrauen darauf, dass Handel immer etwas Gutes ist und uns nicht durch die Hintertür schadet, noch einmal stark erschüttert. Auch Russland, 2011 in die WTO eingetreten, hat von unseren offenen Märkten profitiert, hat links und rechts westliche Technologie eingekauft, auch um seine Armee zu modernisieren – und setzt das jetzt brutal gegen die Ukraine ein, ein Land, mit dem die EU ein Assoziierungsabkommen hat.

PWP: Aber nicht nur Russland ist ein Problem.

Felbermayr: Dass so etwas im Handel mit China laufend passiert und auch mit Indien geschehen kann, mit seinem sehr nationalistischen Regierungschef Narendra Modi; dass auch ein Jair Bolsonaro und ein Recep Tayyip Erdogan solche Spielchen spielen – das hatte ich aus meinem Weltbild lange verbannt. Aber jetzt kommt die Ernüchterung mit großer Vehemenz. Wahrscheinlich war die Welt schon immer so, aber die Ökonomen waren etwas naiv. Auf jeden Fall bedeutet das, dass wir die Globalisierung ganz anders denken müssen als bisher.

PWP: Und zwar wie?

Felbermayr: Von der Idee des einen großen Weltmarkts müssen wir uns verabschieden. Es wird nicht nur einen Markt geben, sondern es werden viele Märkte sein. Die Welt wird ökonomisch auch nicht mehr nur in die klassischen Zonen Ost und West zerfallen. Schon in ein paar Jahren wird Indien China demographisch überholt haben und wird sich nicht ins Ost-West-Schema einordnen wollen, ebenso wenig wie Afrika. Die Märkte werden sich weiter fragmentieren, und darüber kann man sich nicht freuen. Es wird verschiedene wirtschaftliche und politische Blöcke geben, die alle versuchen werden, möglichst souverän zu sein. Intern werden diese Blöcke aber womöglich freieren Handel haben als bisher. Immerhin birgt das auch für uns Chancen: Die Aussicht, dass wir noch mehr Handelsbarrieren mit den Vereinigten Staaten abbauen können, sind heute wohl größer als noch zu TTIP-Zeiten. Freihandel wird in Zukunft nicht mehr multilateral stattfinden, sondern vorrangig in Clubs.

PWP: Aber das bedeutet, dass wir tatsächlich daran arbeiten müssen, unsere Abhängigkeit von Zulieferern in anderen Blöcken nicht zu groß werden zu lassen – was ja eine große Lehre sowohl des Krieges als auch schon der Pandemie ist. Stichworte „Decoupling“ und „Reshoring“.

Felbermayr: Ja, genau. Aber wer ist „wir“? Mir macht schon diese Formulierung Bauchschmerzen. Denn wer entscheidet dann? Geht es hier um den Wirtschaftsminister, der Befehle erteilt? Der vorschreibt, welcher Anteil des im Inland verwendeten Penicillins aus Europa kommen muss

und nicht mehr in Indien eingekauft werden darf? Das geht meines Erachtens viel zu weit. Wenn wir das wichtige Anliegen der Diversifizierung und der Versorgungssicherheit marktwirtschaftlich verfolgen, haben wir viel bessere Chancen, dass das ohne großen Wohlfahrtsschaden vonstattengeht, und wir nicht protektionistisch überschießen. Meine Sorge ist, dass wir das notwendige Decoupling mit sehr planwirtschaftlichen Mitteln angehen, dass also unternehmerisches Handeln zunehmend durch eine Verordnung aus der Amtsstube eines Ministeriums ersetzt wird. Dann wird es teuer. Dann entkoppeln wir uns nicht nur, sondern wir haben auch noch den Wohlfahrtsverlust aus einer schlecht informierten bürokratischen Umsetzung. Es muss ja wirklich nicht sein, dass wir gleichzeitig Decoupling und Kommandowirtschaft erleben.

PWP: Und wessen bedarf es dafür?

Felbermayr: Wir müssen dringend die Vollkasko-Mentalität loswerden, die sich in weiten Kreisen der Wirtschaft eingenistet hat und die dazu führt, dass man Lieferkettenrisiken nicht richtig internalisiert. Wenn mal ein Ersatzteil aus China nicht geliefert wird, dann stellt die Industrie halt auf Kurzarbeit um. So entsteht im Ergebnis die paradoxe Situation beispielsweise der Automobilindustrie, dass sie viel weniger in Deutschland produziert und trotzdem Milliardengewinne macht.

PWP: Moral hazard.

Felbermayr: Absolut.

PWP: Ist es nicht ein bisschen ähnlich, wenn die Politik die Bürger jetzt massiv von den steigenden Energiekosten befreit, wie es die Bundesregierung in mehreren Entlastungspaketen getan hat? Wäre es dem Ernst der Lage nicht angemessener, diese Lasten auch mal stehen zu lassen, spürbar als das, was sie sind: die Kosten der Verteidigung der Freiheit nicht nur der Ukraine, sondern auch bei uns?

Felbermayr: Auch da bedient der Staat einmal mehr eine Vollkasko-Mentalität, diesmal eben bei den Bürgern. Das ist immer dann ein ökonomisches Problem, wenn daraus falsche Handlungsanreize entstehen; wenn ich mein Tun also nicht anpassen muss, weil ich weiß, dass mich der Staat, was immer passiert, vor Unglück bewahren wird. Das ist ja der Grund, warum beispielsweise Menschen aus Braunkohlerevieren nicht wegziehen und in Überschwemmungsgebieten ihre Häuser bauen.

PWP: Und hier müssen sie ihre Energienachfrage nicht so stark drosseln, wie sie es ohne die staatliche Hilfe müssten. Aber kommen wir zurück zu den Unternehmen.

Felbermayr: Die wissen ja schon, mit wem sie es in China oder in Russland zu tun haben, und sie ruhen sich darauf aus, dass es viele Jahre gut gegangen ist. Wie oft haben wir das gehört: Russland hat immer geliefert. China hat immer geliefert. Indien hat immer geliefert. Jetzt liefern sie mal nicht – schon muss der Staat ran. Das ist ein Denken, das mit Marktwirtschaft nicht zusammengeht. Aber diese implizite Versicherung, auf der sich die Wirtschaft ausruht, ist nur ein Element. Es gibt eine ganze Litanei von Dingen, die mit der Aushebelung der Marktwirtschaft zu tun haben und unsere Resilienz verringern, statt sie zu stärken. Das ist ein ganz großes Thema.

PWP: Es wird allerdings nicht gut möglich sein, die Abhängigkeit von Zulieferern beispielsweise in China oder Indien von heute auf morgen zu beenden, einfach weil es Zeit dauert, bis entsprechende Kapazitäten bei uns aufgebaut sind. Vielleicht stecken wir auch in einem Gefangenendilemma fest – keiner will der erste sein, der die Investitionen schultert, die anderen könnten ja Trittbrett fahren. All das verlangsamt die Umstellung, und das können wir uns derzeit wohl kaum leisten, oder?

Felbermayr: Wie immer mit Moral-hazard-Problemen wird es auch in diesem Fall keineswegs einfach sein, den strukturellen Fehlanreiz wieder aus der Welt zu schaffen. Der Staat hat hier ein enormes Glaubwürdigkeitsproblem. Wenn erst einmal in der Industrie die Bänder stillstehen, wenn also beispielsweise in Ludwigshafen nicht mehr produziert werden kann, klar, dann wird der Staat selbstverständlich versuchen, die Arbeitskräfte mit Kurzarbeitergeld zu schützen. Eine politische Ankündigung, dass der Staat Unternehmen, die ihre Lieferketten nicht in den Griff bekommen, nicht länger herauspauken wird, ist schlicht nicht glaubwürdig. Und das wissen alle. Die Frage ist, ob es nicht Zwischenlösungen gibt, die man tatsächlich glaubwürdig verkünden kann. Wir hatten ja auch schon vor der Pandemie ein Kurzarbeitergeld, aber da war es noch keine Vollkasko-Versicherung. Erst in der Pandemie hat man es dazu gemacht. Eine Versicherung ist gut, aber es braucht einen spürbaren Selbstbehalt, damit die Anreize intakt bleiben, selber zur eigenen Versorgungssicherheit beizutragen. Diversifizierung kostet natürlich Geld. Einen einzelnen Zulieferer zu haben, ist typischerweise günstiger; da muss man nur einen einzigen Key account verwalten statt eines ganzen Portfolios. Aber so ist das nun mal.

PWP: Erinnern Sie sich noch an die industriepolitische Strategie des deutschen Wirtschaftsministers Peter Altmaier (CDU) aus dem Jahr 2019? Ihm ging es damals darum, Abhängigkeiten zu reduzieren, insbesondere mit Blick auf China, und er fürchtete, dass der Impuls dazu aus der Wirtschaft selbst nicht kommen werde. Würden Sie sagen, dass wir schon damals mit Moral hazard zu tun hatten?

Felbermayr: Ja, und das Problem, dass der Staat nicht glaubwürdig ankündigen kann, dass er in Not geratene große Unternehmen nicht herauspaukt, beschäftigt uns sowieso schon sehr lange. Dass der deutsche Staat sie nicht im Stich lassen wird, kann sich eine BASF und ein Volkswagen-Konzern so gut ausrechnen wie eine Deutsche Bank. In den Jahren 2008 und 2009 hat sich das Problem sehr stark auf den Bankensektor und auf Regierungen im Süden Europas bezogen, aber es ist klar: so große Unternehmen wie die BASF und Volkswagen sind „too big to fail“. Und was Peter Altmaier angeht – seine Strategie müssen wir heute anders lesen. Ich habe seinerzeit mit meinen Kieler Kollegen einen Verriss dieses Papiers geschrieben, und das mit Genuss. Wir haben ihm gewissermaßen Paranoia unterstellt. Aber Chinas Gebaren und der Unwillen der Wirtschaft, sich unter Aufwendung eigener Mittel umzustellen – zusammengenommen ist das schon ein erhebliches Problem, auf das man reagieren muss. Ich glaube, ich habe Altmaier da gelegentlich Unrecht getan. Was nicht heißt, dass die praktischen Vorschläge in dem Papier allesamt gut waren. Das waren sie beileibe nicht. Aber Altmaier hatte eine gefährliche Tendenz besser erkannt als viele andere, das muss man im Nachhinein anerkennen.

PWP: Wenn die Devise für die Zukunft nun also „mehr Handel mit Freunden“ lauten muss, dann ist zu hoffen, dass es in der Politik bald auch mehr Unterstützung für entsprechende Freihandelsabkommen gibt. Können wir damit rechnen?

Felbermayr: Ich glaube schon. Es ist in letzter Zeit ja schon immer mal wieder von der Notwendigkeit einer „Wirtschafts-NATO“ die Rede gewesen, jüngst auch in einem Leitantrag auf dem Parteitag der CSU. Wenn wir schon unsere Sicherheitssysteme integrieren, warum dann nicht auch die Wirtschaft? Die Aufrechterhaltung einer Fragmentierung in wirtschaftlichem Kontext ist gerade jetzt nur schlecht zu argumentieren. In manchen Bereichen laufen die Dinge ja auch in der Tat längst zusammen. Im Zusammenhang mit der militärischen Beschaffung beispielsweise gilt das Beihilferecht der EU nicht, da sind die Märkte fragmentiert. Mit Blick auf die Vereinigten Staaten gilt das noch viel mehr. Aber das ist nicht hilfreich. Auf hoch fragmentierten Märkten bekommt man mit demselben Geld sehr viel weniger auf den Boden gestellt. Und wir werden wohl kaum der Idee verfallen, unser Militär mit chinesischen Waffen aufzurüsten. Wir werden künftig in Europa und in den Vereinigten Staaten oder allenfalls noch in Südkorea einkaufen. Es geht nicht an, jetzt regulatorische Hürden oder Zollschranken zu umschiffen und Arbitrage zu betreiben. Das bedeutet aber, dass wir weniger Auswahl haben. Unsere Beschaffungsmärkte werden kleiner, und umso wichtiger ist es, unsere Kooperation im Westen zu verstärken und Hürden aus dem Weg zu räumen.

PWP: Die Rüstungsindustrie war lange ein Feindbild. Das scheint sich auch in der öffentlichen Wahrnehmung gerade erheblich zu ändern – und die Industrie selbst bekommt viel zu tun.

Felbermayr: Klar, da herrscht Aufbruchstimmung. Und das muss auch gar nicht schlecht sein, ganz unabhängig von der eigentlichen Produktion. Wir wissen ja aus der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung, wie sehr der militärisch-industrielle Komplex immer wieder für bahnbrechende Innovationen gesorgt hat. Als Ökonom hat man vielleicht erst einmal den Reflex, Militärausgaben für unproduktiv, unsinnig und mithin gar für Verschwendung zu halten. Gibt es denn eine größere Verschwendung als die, Panzer zu bauen, die keiner je braucht? Jetzt brauchen wir sie allerdings, zur Abschreckung und auch zur Unterstützung der Ukraine. Und abgesehen davon gibt es externe Effekte, die uns zupass kommen können.

PWP: Was denn zum Beispiel?

Felbermayr: Etwa eine Beschleunigung technologischer Entwicklungen. Man muss zum Beispiel überlegen, wie die Armee der Zukunft dekarbonisiert werden kann. Womit sollen die Panzer rollen, wenn wir bald keine fossilen Brennstoffe mehr einsetzen wollen? Mit Batterien, die man alle paar Kilometer neu aufladen muss? Ich könnte mir gut vorstellen, dass man die Entwicklung von grünem Brennstoff, den man genauso transportiert wie bisher Benzin und Diesel, jetzt gerade im militärisch-industriellen Komplex stark vorantreiben könnte. Wenn der Staat die Vorgabe macht, dass Militärfahrzeuge innerhalb der nächsten zehn, zwanzig Jahre dekarbonisiert sein müssen, dann gibt es eine verlässliche, hinreichend skalierte Nachfrage für die Industrie, und er schafft damit einen Markt. In der Vergangenheit hat derlei oft funktioniert. Man kann technologische Sprünge erhoffen.

PWP: Eigentlich erstaunlich, dass wir uns über Panzer unterhalten. Gab es nicht mal die Vorstellung, dass die Kriege der Zukunft allenfalls noch im Cyberspace ablaufen, aber nicht mehr in dem Maße physisch ausgetragen werden, wie wir es in der Ukraine beobachten. Ist das nicht fast archaisch?

Felbermayr: Aber natürlich. Vieles von dem, was da passiert, mutet archaisch an. Das beginnt ja schon mit dem physischen Besitz von Land als Ziel – dass das in unserer dematerialisierten Wirtschaft überhaupt noch eine Rolle spielt, dass das ein hinreichend großer Anreiz für ein Land wie Russland ist, um Tausende von Menschen umzubringen und die eigenen Soldaten in den Tod zu schicken, das ist bemerkenswert. All das, um das eigene Territorium zu vergrößern. Das ist ein Anachronismus.

PWP: Zumal die russische Armee auf dem eroberten Land erst einmal alles verwüstet: Nicht einmal das Interesse an Infrastruktur und Industrieeinrichtungen erscheint ausgeprägt. Reine Zerstörung.

Felbermayr: Das ist völlig aus der Zeit gefallen.

Das Gespräch führte Karen Horn. Gabriel Felbermayr wurde von Daniel Novotny fotografiert, Karen Horn von Beatríz Barragán.

Zur Person

Gabriel Felbermayr: Handel, Arbeitsmarkt, Europa

Karen Horn

Gabriel Felbermayr, 1976 im oberösterreichischen Steyr geboren und im nahegelegenen Bad Hall aufgewachsen, gehört zu jenen Ökonomen, die schon aus ihrer familiären Herkunft eine gewisse Nähe zum Wirtschaftsleben mitbekommen haben. Die Großmutter war Unternehmerin, und durch sie war er nicht nur, wie er sagt, mit dem Erzielen von Gewinnen vertraut, sondern auch damit, „dass es in einem Unternehmen auch mal schlechte Zeiten gibt“. Die Eltern indes arbeiteten beide als Mittelschullehrer; sie waren von jenem missionarischen pädagogischen Ehrgeiz durchdrungen, der die Schüler anhält, „etwas Richtiges“ zu lernen, damit sie sich im Leben leichter tun. Felbermayr sieht darin eine Wesensart, die auch die meisten Ökonomen kennzeichnet: mit einer gehörigen Dosis Idealismus, vorgetragen mit einer gelegentlich vielleicht etwas oberlehrerhaften Attitüde („Wir wissen, wie es geht“), und vor allem in dem Wunsch, die Welt ein bisschen besser zu machen.

Seine Mutter, Französischlehrerin und große Liebhaberin der französischen Kultur, sorgte neben alledem auch für einen Hauch von Frankreich im Felbermayrschen Haushalt in Bad Hall. „Es war selbstverständlich, dass man französische Literatur las – die Frankreichliebe war unhinterfragt immer schon da“, erzählt Felbermayr. Er hat nicht nur schon als Kind viel Zeit im Hexagon verbracht, als Schüler Auslandsaufenthalte absolviert und vor dem Studium ein Jahr eine interdisziplinäre „Classe préparatoire“ am Lycée Français in Wien besucht. Er ist seit vielen Jahren mit einer Französin verheiratet, und dass seine drei Töchter eine französische Schule besuchen können, ist für ihn ein wesentlicher Standortfaktor.

Er selbst besuchte das Stiftsgymnasium der Zisterzienserabtei im oberösterreichischen Schlierbach. Der katholische Glauben ist ihm „Orientierung und Leitplanke“ bis heute. In die Spur seines künftigen Lebensweges half ihm in der Schule ein Lehrer, der Wirtschaftskunde unterrichtete und „für das Fach brannte“. Dieser Lehrer verstand es, Modelle und Theorien in den jeweiligen Kontext zu setzen. Bei ihm legte Felbermayr auch eine der mündlichen Maturaprüfungen erfolgreich ab. „Da gab es eine Aufgabe mit einem Marktmodell, komplett mit Angebot und Nachfrage, mit Produzentenrente und Konsumentenrente – das war

schon sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit“, erinnert er sich.

Spannend fand der europabegeisterte junge Mann damals auch die im Land erhebliche Wellen schlagenden Diskussionen über den Vollzug des EU-Beitritts Österreichs 1995 und über die Osterweiterung. „Mir zeigten diese Entwicklungen, dass die ökonomische Forschung politisch extrem relevant ist. Die Argumente für die EU waren ja unter anderem wirtschaftspolitische.“ Deshalb nahm er – auch wenn er noch unsicher war, in welche Richtung es beruflich eines Tages gehen sollte – an der Universität Linz ein Studium der Handelswissenschaften („Internationale BWL“) und der Volkswirtschaftslehre auf. Allerdings fand er gerade die Volkswirtschaftslehre zunächst ausgesprochen langweilig, wenn nicht sogar lächerlich: „Als ich die Lehrbuchversion des IS-LM-Modell das erste Mal gesehen habe, dachte ich nur, das kann’s ja wohl nicht sein.“ Doch dann stieß der Vorarlberger Wilhelm Kohler, der bis 1996 in Essen gelehrt hatte, zur Linzer Fakultät hinzu, als Professor der Außenwirtschaftstheorie – und für Felbermayr wurde alles anders.

Mit seinem mathematischen, anspruchsvollen Ansatz dezimierte Kohler, wie sein Schüler erzählt, einen Hörsaal mit 300 Leuten innerhalb von drei Wochen auf eine Kleingruppe von 10 Personen. Kohler habe den verbliebenen Studenten seine Begeisterung für das Fach mitgegeben und sie aktiv gefördert. Bei ihm habe er die wichtigsten Methoden der Disziplin erworben, vor allem den Umgang mit allgemeinen Gleichgewichtsmodellen mit vielen Ländern und Sektoren. „Das ist wie Weltphysik“, sagt Felbermayr und muss selber lachen. „Dass man das machen kann, ist eine größenwahnsinnige Anmaßung, aber gleichzeitig findet man darin natürlich ein supertolles Spielzeug. Dass man mit Modellen ausrechnen kann, was beispielsweise passiert, wenn sich China der WTO öffnet, mit Tausenden von Interaktionen, und alles passt sich gleichzeitig an – das fasziniert mich bis heute.“

In den Jahren 1999 und 2000 legte er seine beiden Magister-Examina ab und ging anschließend ans Europäische Hochschulinstitut in Florenz, wo er 2005 mit Aufsätzen über die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftswachstum und internationalem Handel die Promotion erlangte. Nach Abschluss der Doktorarbeit blieb er nicht im Wissenschaftsbetrieb, sondern suchte einer „richtigen Arbeit“ nachzugehen, wie er es formuliert: Er wurde Associate Consultant bei der Unternehmensberatung McKinsey & Co. in Wien. Doch schon nach nur einem Jahr zog es ihn zurück in die akademische Welt, und damit begannen auch Felbermayrs deutsche Wanderjahre – es wurden insgesamt 16.

Zunächst ging er an die Universität Tübingen, wohin Kohler inzwischen gewechselt war. Felbermayr lehrte dort als Akademischer Rat und habilitierte sich 2008 mit einer Schrift zum Thema Handel und Arbeitslosigkeit. Ein erster Ruf brachte ihn anschließend auf einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre mit Spezialisierung auf Außenwirtschaftstheorie und -politik an der Universität Hohenheim bei Stuttgart, bevor er nur zwei Jahre später auf eine Professur an der Ludwig-Maximilians-Universität München wechselte. Sie war mit der Leitung des Zentrums für internationale Wirtschaft am ifo-Institut verbunden, dem er neuen Schwung verlieh. Er repräsentierte es auch öffentlichkeitswirksam mit seinen freihändlerischen Positionen vor dem Hintergrund des globalen Protektionismus, der sich unter dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump und mit dem Brexit-Votum verschärfte. In der deutschen Debatte wurde Felbermayr zu einer der führenden Stimmen der Globalisierung.

Besonders viel öffentliche Aufmerksamkeit wurde ihm in Deutschland vom September 2018 an zuteil, als er zum Präsidenten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) berufen wurde, verbunden mit einem Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Universität Kiel. Hier konnte er die für ihn typische Verbindung aus wissenschaftlichem Ehrgeiz, unternehmerischer Antriebskraft, Managerqualitäten und genussvollem öffentlichen Auftritt gut einsetzen. Das insgesamt 160 Mitarbeiter zählende Institut an der Kieler Förde unter dem Dach der Leibniz-Gemeinschaft hatte sich zuvor unter der Präsidentschaft von Dennis Snower auf sozialpolitische und interdisziplinäre Fragen fokussiert; Felbermayr setzte die Evidenzorientierung und Modernisierung fort, richtete das Institut nun gemeinsam mit seinem Team aber wieder stärker auf sein traditionelles Kerngeschäft aus, die Außenwirtschaft. Zudem war ihm wichtig, das Institut wieder in der Öffentlichkeit und in den Medien präsenter zu machen. Dabei ist ihm die Sichtbarkeit nie Selbstzweck, sondern sie soll eine wichtige Steuerungsfunktion erfüllen: „Wenn man auf dem Radar der Öffentlichkeit ist, dann macht man auch mehr relevante und öffentlichkeitswirksame Forschung, weil man weiß, dass sie rezipiert wird.“

Für viele Beobachter kam es überraschend, als Felbermayr das Institut allerdings bereits nach rund zwei Jahren wieder verließ. Der Grund war, wie er immer wieder fast ein wenig verlegen betont, vor allem das Heimweh, der unwiderstehliche Ruf der Heimat. „Etwas anderes hätte mich nicht vom IfW weggebracht“, beteuert er. Kiel und Hamburg, wo er mit Frau und Kindern sein norddeutsches Domizil bezogen hatte, waren einfach zu weit entfernt von Oberösterreich und dem Hide-away in den Bergen. Den konkreten Anlass zur Heimkehr gab schließlich der Ruf ans 1927 von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek gegründete Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), verbunden mit einem Lehrstuhl an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Trotzdem schaut Felbermayr ein wenig wehmütig zurück und bedauert die Kürze seiner Kieler Zeit: „Das IfW ist ein ganz besonderes Institut. Gemeinsam haben wir gesät, und natürlich würde ich jetzt gern gemeinsam mit allen, die mitgeholfen haben, auch noch die Früchte ernten.“ Doch auch aus der Ferne freut er sich darüber, dass das Institut kürzlich sein bestes Medienergebnis aller Zeiten erzielt hat, sogar ganz ohne Präsident. Denn der Posten ist seit seinem Weggang vakant; die Neubesetzung dieses Amts, das „einen mit Haut und Haaren fordert“, wie Felbermayr sagt, gestaltet sich schwierig. Aber er ist zuversichtlich: „Das Institut ist ein sehr attraktiver Ort, an den man eine Leuchtturmfigur locken können sollte. Das hat in der Vergangenheit geklappt und wird auch wieder klappen.“

In Wien hieß es erst einmal in einer völlig anderen Welt ankommen. Als Wissenschaftler hatte Felbermayr noch nie in der Heimat gearbeitet, und nun galt es erst einmal die Eigendynamik des in Österreich führenden Instituts der angewandten empirischen Wirtschaftsforschung zu erspüren, das unter anderem die offizielle Konjunkturprognose für die Finanzplanung der Regierung erstellt. Felbermayr bezeichnet das als Verein organisierte, ohne viel Hierarchie auskommende Institut gern als „Expertenorganisation“. Unter den insgesamt etwa 100 Mitarbeitern befinden sich rund 60 Fachleute, „die allesamt im Radio, im Fernsehen in den Hauptnachrichten und in den Talkshows auftauchen oder auch den Bundeskanzler beraten, wenn’s thematisch passt.“ Sie sind in rund 90 wirtschaftspolitisch relevanten Gremien vertreten, vom österreichischen Fiskalrat, der Wettbewerbs- und der Alterssicherungskommission bis hin zu Arbeitsgruppen der Europäischen Union.

Das WIFO ist damit breiter aufgestellt und enger in die Politik eingebunden als die von Lehrstühlen ausgehend aufgezogenen Leibniz-Institute in Deutschland, an deren Spitze nur wenige erfahrene Ordinarien stehen. Felbermayr beschreibt das Wiener Forschungsinstitut als ein „McKinsey der wirtschaftspolitischen Beratung“, als eine Art ökonomische Sozietät mit vielen Partnern. Eine Struktur, wie es beispielsweise auch das Münchner ifo besitzt, passe angesichts dieser Tradition deshalb einfach nicht. „Das ist für mich herausfordernd, weil ich das bisher nicht kannte.“

Auch an die politische Rolle des WIFO musste er sich erst gewöhnen. „Das WIFO ist in Österreich politisch viel einflussreicher als jedes einzelne Leibniz-Institut in Deutschland“, erklärt Felbermayr und ergänzt: „Wenn ich als Leiter des Instituts hier etwas sage, hat das mehr Auswirkungen, als mir manchmal recht ist – man trägt eigentlich ständig eine große Verantwortung für das Land.“ In Deutschland könne man als engagierter Wissenschaftler auch problemlos provozieren und sich mitunter ein wenig drastisch ausdrücken, denn im Konzert der in der öffentlich wahrnehmbaren Stimmen gleiche sich das immer wieder aus. Im wesentlich kleineren Österreich sei das anders.

Das Institut wird 2027 den 100. Jahrestag seiner Gründung feiern. Vom „hundertjährigen Bestehen“ zu sprechen, wäre insofern nicht ganz präzise, als das Institut in den Jahren 1938 – 1945 keine autonome Existenz besaß: Nach dem nationalsozialistischen „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich war es in das Berliner Institut für Konjunkturforschung (das heutige DIW) eingegliedert worden; nach 1945 wurde es als eigenständige österreichische Einrichtung wiederbelebt. Inzwischen, befindet Felbermayr, habe sich am WIFO der brennende wissenschaftliche Ehrgeiz, vom dem Hayek als Pionier der Konjunkturforschung noch durchdrungen gewesen sei, ein wenig abgeschliffen. „Wir haben uns in der sozialpartnerschaftlichen Bequemlichkeit des Landes eingerichtet; erster zu sein in Wien, war für das WIFO immer schon gewissermaßen gesetzt, fast so etwas wie eine Naturkonstante.“

Felbermayr hat sich das Jubiläumsjahr 2027 als Horizont gesetzt, um mit dem wissenschaftlichen Qualitätsanspruch des WIFO wieder enger an das Niveau der Gründer anzuknüpfen. Mit Blick auf Mises, Hayek und Oskar Morgenstern, der Hayek als Direktor nachfolgte, als dieser an die London School of Economics berufen wurde, schwärmt Felbermayr von „absoluten Koryphäen“. Solche „Giganten“ gebe es heute nur noch in Princeton oder Harvard. „In Europa sind wir abgestiegen und spielen in einer anderen Liga“, bedauert er. Aber die Erste Liga bleibt seine Benchmark.

Online erschienen: 2022-06-29
Erschienen im Druck: 2022-07-04

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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